Dienstag, 24. Oktober 2017

Ohne Chance geboren

Besonders hohes Armutsrisiko für Alleinerziehende, Foto: junge Welt
Studie: Wer arm aufwächst, kann kaum auf besseres Leben hoffen. Erwerbslose, Migranten, Alleinerziehende, Kinderreiche besonders betroffen

Die Klassengesellschaft lebt. Bekannt ist seit langem, dass die Zahl armer Kinder in Deutschland wächst. Die Bundesregierungen der vergangenen Jahre unternahmen dagegen jeweils nichts. 

Immerhin beschert dieser verfestigte Zustand in einem Land, dessen Wirtschaft einen Exportrekord nach dem anderen vorweist, so manchen »Experten« eine gute Auftragslage. Die Bertelsmann-Stiftung, bekannt u. a. für ihr Mitwirken an der »Agenda 2010«, zeigt nun in einer am Montag veröffentlichten Langzeitstudie: Armut gebiert Armut. Für Kinder, die in einer davon betroffene Familie aufwachsen, sei es in der Bundesrepublik sehr schwer, dieser strukturellen Mittellosigkeit zu entfliehen.

Ein Fünftel ohne Chance

Die Studie basiert auf Datenerhebungen aus den Jahren von 2011 bis 2015. Ihr zufolge lebt mehr als ein Fünftel aller Kinder (gut 21 Prozent) in der Bundesrepublik in ständiger Armut. Das heißt: Ihre Eltern haben stets weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Weitere zehn Prozent der unter 15jährigen erlebten wiederkehrende Perioden akuten Geldmangels. Schwerer als andere habe es etwa der Nachwuchs von Eltern mit niedriger beruflicher Qualifikation.

Ein großer Teil dieser Minderjährigen lebt demnach in Einelternfamilien. Laut aktueller Daten, die die Bundesregierung auf Anfrage der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Die Linke) herausgegeben hat, fallen inzwischen 43,6 Prozent der Alleinerziehenden unter diese Armutsschwelle. Vor zehn Jahren waren es rund 39 Prozent. Ein besonders hohes Risiko, in nicht gesicherten Verhältnissen aufzuwachsen, haben der Studie zufolge auch Kinder und Jugendliche in Familien mit Migrationshintergrund. Diese Gruppe stelle 46 Prozent der Betroffenen. Überproportional (sozial) »abgehängt« seien zudem Minderjährige mit mindestens zwei Geschwistern.

Die »sozialen Milieus« seien in Deutschland sehr undurchlässig, resümieren die Autoren dazu. Der Nachwuchs habe kaum eine Chance. Nur in seltenen Fällen gelinge es Betroffenen, später in die Mittelschicht aufzusteigen. Springers Welt online erkannte darin zynisch »eine Art Unterschichtsmentalität«, die »dem Kind ein Leben lang anhaftet«.

In der Hartz-IV-Falle

Als besonders stabil erweise sich die prekäre Situation im Hartz-IV-Bezug, warnen die Autoren. Das betrifft insgesamt fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche im Land mit der weltweit viertgrößten Volkswirtschaft. Diese jungen Menschen würden gemeinsam mit ihren Eltern in ein System des »Forderns und Förderns« gepresst, »in das sie nicht hineingehören«. Es orientiere sich am untersten Einkommensrand der Gesellschaft. »Dort gehören Unterversorgung und Ausgrenzung bereits vielfach zum Alltag dazu«, mahnen die Autoren. Die Kinder seien in dieser Lage jedoch gefangen und hätten keine Möglichkeit, sich daraus zu befreien. Dabei würden gerade in dieser Lebensphase »die Grundlagen für das weitere Leben mit Blick auf Bildung, Entwicklung, Gesundheit, aber auch Demokratieverständnis gelegt«. Die Gesellschaft komme hier ihrer Verantwortung, allen Kindern einen guten Start zu ermöglichen, nicht konsequent nach.

Wie wenig der Gesetzgeber Minderjährige und junge Erwachsene im Hartz-IV-System tatsächlich schützt, zeigt zum Beispiel eine Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit (BA) für das Onlineportal O-Ton Arbeitsmarkt vom vergangenen November. Danach lebten im Jahr 2015 bei einem Drittel aller sanktionierten Hartz-IV-Bezieher Kinder im Haushalt, rund 30 Prozent davon waren alleinerziehend. In jedem Monat des Jahres hatten Jobcenter im Schnitt 2.600 Eltern, davon 220 Alleinerziehende, sogar vollständig sanktioniert. Das heißt: Die Familien mussten mindestens drei Monate lang von Lebensmittelgutscheinen existieren.

Doch auch vor den Minderjährigen selbst machen Jobcenter nicht halt. Wer das 15. Lebensjahr vollendet und die Schule bereits verlassen hat, muss laut Gesetzgeber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Hält er dabei eine Regel nicht ein, droht ihm umgehend eine 100-Prozent-Sanktion. Nach jW vorliegenden BA-Zahlen waren im vergangenen Jahr monatlich rund 2.300 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 und 6.600 Volljährige unter 20 Jahren von einer drakonischen Hartz-IV-Strafe betroffen.

Die Chancen dafür, dass die kommende Bundesregierung die in der Studie erhobenen Forderungen befolgt, dürften indes gering sein. Die Autoren verlangen, tatsächliche Bedarfe für Kinder empirisch zu erfassen. Ein so berechnetes, steuerfinanziertes »Teilhabegeld«, das einkommensabhängig abzuschmelzen sei, müsse die Hartz-IV-Regelsätze ersetzen. Außerdem sei ein »erreichbares, kompetentes und unbürokratisches Unterstützungssystem für Kinder und Familien« nötig, um das Abrutschen in akute Notlagen zu verhindern. Stiftungsvorstand Jörg Dräger konstatierte: »Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand; wer einmal arm ist, bleibt lange arm«. Es gelinge immer weniger Eltern, sich aus prekären Situationen zu befreien. Die künftige Familien- und Sozialpolitik müsse, forderte er, »die Vererbung von Armut durchbrechen«.

Von Susan Bonath
Aus „junge Welt“ vom 24.10.2017

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