Dienstag, 13. Juni 2017

Armut schleudert ins Abseits

Über 12 Millionen sind bereits in der Falle „Armutsgefahr“

Comedians aus dem Merkel/Gabriel-Kabinett bedienen weiterhin die sarkastische, eher zynische Sparte: Es gibt keine Armut in Deutschland. Und: Afghanistan ist ein sicheres Land.

Wie bei einer schlechten Theateraufführung gibt es dann einzelne Claqueure. Und es gibt scharfe Kritiker. Nach Aussage der „Tafeln“ leben „Millionen Menschen in Einkommensarmut oder sind unmittelbar von ihr bedroht … Für den Kauf von Lebensmitteln bleiben den Betroffenen nur wenige Euro pro Tag, die für die Zubereitung von Frühstück, Mittag- und Abendessen ausreichen müssen. Frisches Fleisch, Milch, Obst und Gemüse werden zu Luxusgütern, die sich die Betroffenen nur selten leisten können.“

Die Folgen lauten in der Kurzformel: „Wer arm ist, stirbt schneller!“ Konkret: Mangelernährung, Krankheitsanfälligkeit, soziale Isolation, Suchtprobleme. In der EU sind Menschen arm, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts verdienen. In Deutschland sind das rund 930 Euro. Der WDR hat die Zahlen für das größte Bundesland auf den Tisch gelegt: 20 Prozent der Bevölkerung gelten als arm. Und daneben gibt es 3 700 Einkommensmillionäre. Jedes sechste Kind ist nach Angaben des Kinderhilfswerkes auf „Stütze“ angewiesen.

Nach Angaben von „save the children“ bringt es Deutschland auf Platz 10 der am besten ausgestatteten Länder. Das ist ein Durchschnittswert, denn es gibt auch in Deutschland Kinder, die besser positioniert sind als auf Platz 1. Und es gibt viele, die – gemessen am internationalen Vergleich – hinter Platz 10 liegen.

Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) fordert, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen und den Staat stärker in die Pflicht zu nehmen, „wenn es um die Wahrnehmung seiner Verantwortung für kindgerechte Lebensverhältnisse und um gleiche Entwicklungschancen für alle Kinder und Jugendlichen geht. Angesichts der aktuellen Debatten über eine viel zu hohe Kinderarmutsquote, unterschiedliche Bildungschancen, ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in Reich und Arm und häufige Fälle von Vernachlässigung wäre dies ein wichtiges Signal.“ In Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention gibt es in Deutschland starken Nachholbedarf.

Es geht nicht nur um das Essen von der „Tafel“ oder das Bankett der Betuchten im Ballsaal. Beachtet werden müssen auch Kosten für Bildung, Gesundheit, Kleidung, Transport, Kommunikation. Am Ende der unsozialen Hitliste stehen dann Kinderreiche, Alleinerziehende, Geringverdiener, Bezieher niedriger Renten, chronisch Kranke, Behinderte. Die Rangfolge bleibt aussagekräftig, besonders wenn sie mit anderen Politikfeldern verglichen wird. Zum Beispiel mit der Rüstungsproduktion und dem Rüstungsexport. Die Waffenindustrie ist stolz auf Platz 3: In Rüstung sind wir besser als bei Kinderarmut.

Armut ist in Deutschland eine Zentrifuge: Die Leichtgewichte werden an den Rand oder gar aus der Umlaufbahn geschleudert, und der fette Kern verdichtet sich immer stärker. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. „Die Zeit“ erinnerte kürzlich daran, dass vor rund zehn Jahren acht Millionen Menschen staatliche Hilfen zum Überleben benötigten: „Jeder zehnte Einwohner bezog Hartz IV, Sozialhilfe, Asylhilfe oder andere Leistungen für die Grundsicherung.“

Der aktuelle „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung legt Zahlen bis 2015 vor. Und siehe da: Es hat sich nichts verbessert. Acht Millionen Menschen lebten 2015 am Existenzminimum. Werden die 60 Prozent des mittleren Einkommens als Berechnungsgrundlage zur Armutsermittlung herangezogen, ergeben sich sogar 12,9 Millionen „Menschen in Armutsgefahr“. Trotz Wachstum, bester Wirtschaftslage, Exportweltmeisterschaft, Exportüberschuss und geschönter Beschäftigungsrekorde hat das Elend einen Namen: Hartz IV mit 409 Euro pro Monat plus Miete. Das gilt auch für die Grundsicherung im Alter.

Die Parteien der Bundesregierung geben vor, das Problem verstanden zu haben. Aber sie verteilen Placebos wie etwa die Rentenerhöhung ab kommendem Monat: 1,90 Prozent (Westen) oder 3,59 Prozent (Osten). Die Rentendifferenz zwischen Ost und West wurde dabei um ganze 1,6 Prozent gemindert. Es wird noch etwas dauern, bis die Renten in Aue denen in Aachen angeglichen sind. Wer arm ist, soll sich über Brosamen freuen. Oder die Verursacher abstrafen.

Von Uwe Koopmann
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 09. Juni 2017

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