Donnerstag, 8. Dezember 2016

Der reale Irrsinn im Norden: Hamburgs Blaulichtviertel

Foto: junge Welt, 08.12.2016
Einer der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Hansestadt soll das OSZE-Treffen sichern. Anwohner sind vor allem eines: genervt

Kampfhubschrauber in der Luft, Scharfschützen in Position, NATO-Draht an Bahndämmen, überall Polizei – Hamburgs harte Hunde proben den Aufstand. Für die heute beginnende zweitägige Ministerratssitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), mit der das Jahr des deutschen Vorsitzes in der OSZE endet, wird die Hansestadt in den Ausnahmezustand versetzt. Die Polizei hat faktisch das Kommando übernommen.

Eine monströse Streitmacht ist im Einsatz: rund 13.200 Beamte, davon allein 700 aus Spezialeinheiten. Flughäfen und Bahnhöfe werden von der Bundespolizei überwacht, die Bundeswehr schickt Eurofighter zur Absicherung des Luftraums.

Dass dieses Heer für den Schutz der Tagung überdimensioniert ist, gibt sogar Hamburgs Polizei zu. 

Der Aufwand sei nötig, weil unter den knapp 50 Amtskollegen aus den 57 OSZE-Mitgliedsstaaten, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) an der Elbe begrüßt, auch Minister wie John Kerry (USA) und Sergej Lawrow (Russland) seien, die das Ziel von Terroristen werden könnten. Vor allem aber diene der Einsatz als Manöver für den G-20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017.

Wegen der vielen »Blauen« in der Stadt sehen viele Hamburger rot. Autofahrer schimpfen über lange Staus, die von den Sperrungen in der City, rund 3.000 eingesetzten Polizeifahrzeugen und Kolonnen der Minister verursacht werden. Paketfahrer klagen, dass sie Weihnachtspakete nicht rechtzeitig zustellen können, und die Anwohner der Messehallen, Veranstaltungsort der Tagung, sind sauer, weil sie ständig kontrolliert werden.

Auch wenn die groteske Entscheidung, das OSZE-Treffen ebenso wie den G-20-Gipfel in Nachbarschaft zu den linken Szenequartieren Karolinen- und Schanzenviertel stattfinden zu lassen, nach wie vor diskutiert wird, rechnen die Sicherheitsbehörden heute und morgen eher nicht mit Störungen. Bisher sind fünf Gegendemos angemeldet, bei denen von einem friedlichen Verlauf ausgegangen wird.

Leiter des Polizeieinsatzes in Hamburg ist Hartmut Dudde, der auch den Einsatz zum G-20-Gipfel managen soll (jW berichtete). Der Spitzenbeamte gilt quasi als Erfinder der »Hamburger Linie«, die eher auf Eskalation als Vernunft setzt. Wegen der Entscheidung für Dudde will das in Köln beheimatete »Komitee für Grundrechte und Demokratie« während des OSZE-Treffens eine Demonstrationsbeobachtung organisieren.

Der Kontakt der Minister zur Bevölkerung bleibt auf ein Minimum reduziert, wie dpa berichtet. Bei den Arbeitssitzungen, beim Mittagstisch im Ruderklub »Germania« an der Außenalster und beim Dinner im Rathaus bleiben Steinmeier und Co unter sich. Der Brite Boris Johnson, der in Potsdam noch das Hohelied auf die OSZE gesungen hatte, reist gar nicht erst an.

https://www.jungewelt.de/kampagne/Auf der Tagesordnung der Konferenz sollen der Konflikt in der Ukraine und die Bekämpfung des Terrorismus stehen. Selbst die Mainstreammedien geben zu, dass dabei nicht viel herauskommen kann. Wegen des Konsensprinzips, das eine Zustimmung aller 57 Mitgliedsstaaten vorschreibt, gab es seit 2002 keine gemeinsame Abschlusserklärung mehr. Der deutsche OSZE-Sonderbeauftragte Gernot Erler illustrierte das Problem am Dienstag so: »Sie können sich vorstellen, dass die russische Seite eine Erklärung nicht akzeptieren wird, wenn darin das Wort Annexion der Krim vorkommt. Und umgekehrt die Ukraine das nicht anerkennen wird, wenn das nicht vorkommt.« Klingt logisch!

Von Kristian Stemmler
Aus „junge Welt“ vom 08.12.2016

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