Sonntag, 23. Oktober 2016

Das Bundesjustizministerium und die alten Nazis

„Die Akte Rosenburg“ bestätigt lang Bekanntes

Der Alliierte Kontrollrat hatte im Artikel IV seines Gesetzes N. 4 vom 30. Oktober 1945 auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens verfügt: „Zwecks Durchführung der Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens müssen alle früheren Mitglieder der Nazipartei, die sich aktiv für deren Tätigkeit eingesetzt haben, und alle anderen Personen, die an den Strafmethoden des Hitler-Regimes direkten Anteil hatten, ihres Amtes als Richter und Staatsanwalt enthoben werden und dürfen nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden.“

Wenige Jahre später waren im Westen Deutschlands nicht wenige Verantwortliche wie „Mittäter“ oft schon wieder in Amt und Würden. Dazu trug auch das 131er Gesetz aus dem Jahr 1951 bei.

Emil Carlebach schrieb in „Hitler war kein Betriebsunfall“: „Die Bundesrepublik wurde aufgebaut mit Leuten, die in jedem zivilisierten Lande wegen ihrer Untaten im NS-Regime vor Gericht und ins Gefängnis gekommen wären. Und sie zogen ihre Mittäter nach, in Justiz und Polizei, in den Beamtenapparat und in das Parteiensystem.

Bundespräsidenten wurden zum Beispiel:  
Theodor Heuss, der für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte und dann für das Leibblatt von Goebbels ‚Das Reich’ schrieb.

Karl Carstens, Mitglied der NSDAP und der SA; Lübke, der vorzeitig zurücktrat, als ihm vorgehalten wurde, dass er als Ingenieur Konstruktionszeichnungen für Konzentrationslager angefertigt hatte.

Bundeskanzler wurde der Altnazi Kurt Georg Kiesinger, der im Reichsrundfunk für den Außenminister Ribbentrop (als Kriegsverbrecher hingerichtet) die antisemitische Auslandspropaganda mit Goebbels koordinierte.“

Aber auch viele Juristen machten Karriere:
„Ministerpräsident wurde der ‚blutige Schwabe‘ Hans Karl Filbinger, und mit ihm, dem Kriegsrichter Hitlers, kamen die blutbefleckten Kriegs- und Sonderrichter unbeanstandet in die Justiz des ‚Rechtsstaates’. 


Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F041435–0028_Engelbert Reineke/CC-BY-SA 3.022.
Bundesparteitag der CDU in Hamburg (v. l. n.r: Hans Karl Filbinger, Dr. Gerhard Stoltenberg, Kurt Georg Kiesinger, Ludwig Erhard) [im Plenum sitzend] 18.–20.11.1973. Von 1966 bis 1978 war Filbinger Ministerpräsident Baden-Württembergs, von 1971 bis 1979 zudem Landesvorsitzender, von 1973 bis 1979 auch einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU. 1978 wurde bekannt, dass Filbinger in der Zeit des Faschismus als Marinerichter 1943 und 1945 vier Todesurteile beantragt oder gefällt hatte. Am schließlich 7. August 1978 trat er als Ministerpräsident zurück. 1979 gründete er das rechtskonservative Studienzentrum Weikersheim, dem er bis 1997 vorstand.




Keiner von ihnen wurde … zur Verantwortung gezogen. Sie und ihresgleichen waren es, die dann den Nachwuchs für die BRD-Justiz ausbildeten …“
(Zitiert nach der 5. Auflage, 1993)

All das und auch, dass in den Ministerien der Bundesrepublik viele alte Nazis saßen, ist lange bekannt – und nicht nur durch Veröffentlichungen in der DDR. „Ungesühnte Nazijustiz – Dokumente zur NS-Justiz“ war der Titel einer Ausstellung, die am 27. November 1959 erstmals in Karlsruhe gezeigt wurde und von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes organisiert worden war.

Sie wurde danach in verschiedenen Universitätsstädten der Bundesrepublik und in West-Berlin gezeigt. Namen wurden genannt, die Tätigkeit von Juristen während der Zeit des Faschismus benannt. Die unter ihrer Beteiligung ergangenen Todesurteile wurden dokumentiert. Verwiesen wurde auf die aktuelle Tätigkeit der Betroffenen in der westdeutschen Justiz.


Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F050216–0016/CC-BY-SA 3.0
Ein Beispiel von vielen: Willi Geiger (seit 1937 Mitglied der NSDAP) war als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg tätig und für mindestens fünf Todesurteile verantwortlich. In seiner Dissertationsschrift rechtfertigte er unter anderem die Berufsverbote für jüdische Journalisten. Nach 1945 wurde er Oberlandesgerichtsrat am Oberlandesgericht Bamberg und 1949 Leiter des Verfassungsreferates im Bundesministerium der Justiz. Er entwarf im Ministerium das Bundesverfassungsgerichtsgesetz. 1950 wurde er dann an den Bundesgerichtshof berufen, wo er ab 1951 Präsident eines Senates war. Gleichzeitig war er von 1951 bis 1977 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Er war auch als Hochschullehrer tätig. Maßgeblich prägte Geiger u. a. die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 und die Entscheidung des Gerichtes zum „Radikalenerlass“.


Das galt als „Tabubruch“. Die Studenten wurden als „Handlanger Pankows“ diffamiert. Die mehr als einhundert in der SDS-Ausstellung bloßgestellten Blutrichter kamen nicht vor Gericht: Man eröffnete ihnen stattdessen zu Beginn der sechziger Jahre den Weg in den vorzeitigen Ruhestand. Andere – vor Gericht gestellte – Täter wurden weiterhin freigesprochen und ihre Taten als Beihilfe verharmlost.

So ließ etwa das Berliner Landgericht 1968 den Angeklagten Hans-Joachim Rehse, den Beisitzer Roland Freislers am Volksgerichtshof, straffrei ausgehen. Rehse war wegen der Unterzeichnung von mehr als einhundert Todesurteilen angeklagt worden.


Foto: Bundesarchiv, Bild 151–39-21/CC-BY-SA 3.0
Berlin – Volksgerichtshof, Prozess nach dem 20. Juli 1944; Hermann Reinecke, Roland Freisler, Heinrich Lautz.


Dass weitaus mehr alte Nazis als nur 100 auch in der Justiz der Bundesrepublik auf hohen Posten saßen, wurde im 1965 in der DDR erschienen Braunbuch nachgewiesen. Dort hieß es unter der Überschrift „Bonn schützt die Mörder“: „Entgegen den offiziellen Verlautbarungen des Bundesjustizministeriums sind heute in Westdeutschland noch über 800 Juristen der nazistischen Ausnahmegerichte tätig.

Nicht einer der zum Teil mit über 100 Bluturteilen belasteten Nazi-Juristen wurde vor Gericht gestellt. Diese ‚Rechtsprecher’, die ausnahmslos im Dienste der Unmenschlichkeit, des Unrechts und der Aggression standen, sind bis in die höchsten Positionen des westdeutschen Staats- und Justizapparates gelangt.

Westdeutsche Gerichte stellten sogar die Ermittlungsverfahren ein, die auf Grund von Strafanzeigen gegen Nazi-Juristen eingeleitet worden waren. Selbst von Staaten der Antihitlerkoalition rechtskräftig verurteilte Nazi- und Kriegsverbrecher wurden in voller Kenntnis ihrer Vergangenheit in Bonner Dienste übernommen.“

Dann wurden Beispiele angeführt und Namen genannt. Viele Nazi-Juristen erhielten nach dem Ausscheiden hohe Pensionen, andere machten in der Politik Karriere. Im „Braunbuch“ wurden auch Namen jener genannt, die hohe Posten im Bundesjustizministerium inne hatten.


Das „Braunbuch“ wurde von der Bundesregierung als „kommunistisches Propagandawerk“ diffamiert. Eine weitere Auflage wurde 1967 auf der Frankfurter Buchmesse beschlagnahmt. Die Bundesregierung behauptete, die erhobenen Vorwürfe träfen nicht zu – spätere Analysen zeigten, dass die Angaben im „Braunbuch“ außerordentlich korrekt waren. Es erlebte mehrere Neuauflagen.


Bundesarchiv, Bild 102–14899/Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0
Ein eindeutiges Signal. Der preußische Justizminister Kerrl besucht das Referendarlager in Jüterbog, hier bei der Besichtigung des Galgens mit dem daran aufgehangenen Paragraphen. Links neben ihm der Lagerleiter Oberstaatsanwalt Spieler und Sturmführer Heesch. August 1933


Als in der vergangenen Woche Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in Berlin den Abschlussbericht einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission vorstellte, war die Aufregung groß, denn im Bericht der Kommission „Die Akte Rosenburg“ heißt es, dass von 170 Juristen, die zwischen 1949 und Anfang der 1970er Jahre im Bundesjustizministerium Leitungspositionen hatten, 90 Mitglieder der NSDAP gewesen waren.

Die an der Untersuchung beteiligten Wissenschaftler zeigten sich überrascht von der hohen Anzahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in hohen Positionen des Ministeriums, obgleich ja viele Fakten schon lange bekannt sind. 

„Der wahre Führer ist immer auch Richter“ – Carl Schmitts Apotheose gilt als besondere Perversion des Rechtsdenkens (Deutsche Juristen-Zeitung 1934). Schmitt gilt noch heute bei einigen Historikern (Münkler) und Staatsrechtlern als „Klassiker des politischen Denkens“.


Die Spitze sei 1957 erreicht worden, so der Leiter der Historikerkommission, der Rechtswissenschaftler Christoph Safferling. „Damals waren 77 Prozent der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, vom Referatsleiter aufwärts.“ „Wie sich zeigt, war die NS-Belastung im Justizministerium womöglich die höchste unter allen Bonner Ministerien.“ („Süddeutsche Zeitung“, 10. Oktober)

„Auch wenn jedem Hinweis nachgegangen wurde, fand eine wirklich kritische Prüfung nicht statt; die betroffenen Personen wurden lediglich um Stellungnahmen gebeten, die von anderen Ministeriumsmitarbeitern zusammengefasst und ausgewertet wurden – zumeist von Josef Schafheutle, der indessen selbst schwer belastet war. Negative Konsequenzen ergaben sich daher aus den Vorwürfen kaum …“

KPD Plakat 1955
Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die die Studie ursprünglich in Auftrag gegeben hatte, stellte fest: Viele der nach dem Krieg leitenden Mitarbeiter des Hauses hätten während der NS-Zeit als Richter bei Sondergerichten gewirkt und seien damit verantwortlich für Todesurteile. Später hätten sie als Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter oder Referatsleiter im deutschen Justizministerium gearbeitet. So sei etwa ein Mitarbeiter, der an den Rassengesetzen der Nazis mitgewirkt habe, später für Familienrecht zuständig gewesen. („Deutschlandfunk“, 10.8.2016) „Entschuldigt“ wurde das damit, dass man ja schließlich zum Neuaufbau – auch der Justiz – „erfahrene“ Fachkräfte gebraucht habe…

Von Nina Hager
Aus„UZ – unsere zeit“ Ausgabe vom 21. Oktober 2016

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