Donnerstag, 20. Oktober 2016

Arbeit, Alter, Armut

Foto: Sozialverband VdK
Zu einigen Hintergründen der Renten-Debatte

Ende September legte das Bundesarbeits- und -sozialministerium erstmals Berechnungen zur Rentenentwicklung bis 2045 vor. Selbst nach Meinung von Medien und Experten, die grundsätzlich dieser Regierungskoalition politisch nahestehen, wirken diese Vorhersagen und Daten „erschreckend“. (Generalanzeiger Bonn v. 29.9.16) Im November will Ministerin Andrea Nahles ihr endgültiges Rentenkonzept vorlegen.

Die Fakten: Das Rentenniveau betrug im Jahr 2000 noch 53 Prozent des letzten Bruttolohns. Heute liegt es bei nur noch 47,8 Prozent. Nach den neuen Prognosen wird es bis 2035 unter die bisher für 2030 prognostizierte Untergrenze von 43 Prozent vom Bruttolohn (Sozialbeiträge sind abgezogen) fallen. Und bis 2045 wird es sogar auf nur noch 41,6 Prozent vom Bruttolohn absinken.

Doch selbst diese für 2045 prognostizierten 41,6, Prozent gelten nur für die so genannten „Eckrentner“, also diejenigen Lohn- und Gehaltsbezieher, die 45 Jahre bei voller Arbeitszeit Rentenbeiträge eingezahlt haben. Dieser Idealtyp des „Eckrentners“ ist nur eine fiktive statistische Annahme. Gleichzeitig werden künftig die Rentenbeiträge in schwindelnde Höhen steigen. Der Beitragssatz würde von heute 18,7 Prozent im Jahr 2031 auf über 22 und danach bis 2045 auf 23,4 Prozent steigen. Nach noch geltendem Recht soll er bis 2030 eigentlich auf 22 Prozent begrenzt bleiben. Was bedeutet das künftig konkret für die Rentenhöhe?

verdi zur Altersarmut

Auf der Frauenalterskonferenz seiner Gewerkschaft lieferte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske Anfang September dazu folgende Informationen: Bei einem Rentenniveau von 43 Prozent; das für 2030 vorhergesagt wird, bräuchte heute ein(e) Beitragszahler(in), die/der während seiner/ihrer Erwerbstätigkeit lediglich 80 Prozent des Durchschnittseinkommens – immerhin 2 400 Euro – verdient, insgesamt 38,2 Beitragsjahre, um das derzeit gültige gesetzliche Grundsicherungsniveau von 774 Euro zu erreichen. Beitragszahler, die mit 2 500 Euro etwas über den 80 Prozent vom Durchschnittseinkommen liegen, könnten nach Abzug der rund 11 Prozent Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeitrag – dann mit nur 809,09 Euro im Monat rechnen.

Altersarmut ist bereits heute weit verbreitet. Die Quote der Erwerbstätigen im Alter von 65 bis 69 Jahren hat sich daher innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt. Betrug sie im Jahre 2005 noch 6,5 Prozent, so stieg sie bis zum Jahr 2015 auf 14,5 Prozent. Jeder siebte in dieser Altersgruppe geht als Rentnerin/Rentner bereits heute einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit nach.

Im Osten Deutschlands sind die Daten und Zustände noch schlimmer als in der Alt-BRD. Im Osten liegt die Armutsquote 26 Jahre nach der Wiedereinführung des Kapitalismus mit 19,7 Prozent um fünf Punkte höher als im Westen: Während die durchschnittliche gesetzliche Rente im Westen 2015 nominell bei 1315 Euro (real 1133 Euro) lag, betrug sie im Osten nominell nur 1141 Euro (real sogar nur 984 Euro). Doch auch diese „Durchschnittsrente“ trügt; viele Versicherte mit weniger als 45 Beitragsjahren müssen mit 900 oder 1000 Euro auskommen. Erst im Jahre 2050 wird in Ost und West der Gleichstand der Renten erreicht sein.

Gegen die neuen Angriffe auf die gesetzliche Rentenversicherung entwickeln sich jetzt deutlich hörbarer als sonst Proteste und Kritiken aus den Gewerkschaften, vom DGB, der IG Metall und von ver.di. Dass der DGB eine Rückkehr zum Rentenniveau von 53 Prozent wie zu Anfang der 2000er-Jahre und eine Rückkehr zu einer paritätischen Finanzierung der Rentenbeiträge von Unternehmern und Lohnabhängigen und erhöhte staatliche Leistungen fordert, findet die volle Unterstützung der DKP. Doch reichen damit die bisherigen gewerkschaftlichen Alternativen aus? Leider nein.

Betriebsrente ist Privatisierung

Insbesondere die Zustimmung zu der von Nahles jetzt aufgeworfenen Höherbewertung der Rolle der betrieblichen Altersrente, um damit eine so genannte „Haltelinie“ in der Absenkung der gesetzlichen Renten mitzufinanzieren, muss eigentlich klaren Widerspruch herausfordern.

Doch es sieht derzeit anders aus. Nahles und Finanzminister Wolfgang Schäuble verständigten sich darauf in der vergangenen Woche in einem Spitzengespräch mit Vertretern von DGB, IG Metall, IG BCE und ver.di sowie der Bundesvereinigung BDA, der Arbeitgeberverbände „Gesamtmetall“ und der Chemiebranche. Die betriebliche Altersvorsorge (bAV) soll unter anderem durch neue Zuschüsse und höhere steuerliche Förderung sowie einen Wegfall von Rentengarantien durch den Arbeitgeber gestärkt werden.

Diese neue Variante der weiteren Privatisierung der Altersrente in Höhe von sechs Prozent des Bruttolohnes liegt nach dem spektakulär gescheiterten Privatisierungsversuch durch die „Riester-Rente“ ganz im Sinne uralter Rentenpläne der Unternehmerverbände, die die „Eigenbeteiligung“ und Selbstverantwortlichkeit“ der Versicherten ausweiten soll. Denn im Prinzip heißt „bAV“ nichts anderes als weiterer Lohnabzug und Vorenthaltung von Geld für die Absicherung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) kritisierte bereits im Frühjahr die Pläne von Finanzminister Schäuble zur Bezuschussung von Betriebsrenten bei Geringverdienern als „Irrweg der Privatisierung“. Stattdessen müsse die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt werden. Der DPWV-Vorsitzende Ulrich Schneider betonte damals im „Mannheimer Morgen“: „Die betriebliche Altersvorsorge ist im Prinzip genauso gescheitert wie die Riester-Rente.“ Nur etwa 60 Prozent der Beschäftigten verfügten über entsprechende Verträge. Ziehe man die ruhenden Verträge ohne Beitragszahlungen ab, seien es sogar unter 50 Prozent.
Noch härter fällt die Kritik des Bundesverbands der Betriebsrentner (BVB) am System der bAV aus. Sie sei der Willkür der Unternehmen und den Schwankungen der Konjunkturentwicklung ausgesetzt. Es gebe auch keine Verpflichtung der automatischen jährlichen Anpassung.

Zwei Drittel der Arbeitgeber erhöhen die Betriebsrenten überhaupt nicht (55 Prozent) oder nur unzureichend (13 Prozent) zitiert der BVB aus einer Studie des Bayrischen Sozialministeriums und belegt diese Feststellung mit einer langen Firmenliste, darunter so erlauchte Namen wie Commerzbank, Daimler, Continental, EADS, Eon, Ford, Gerling, Germanischer Lloyd, ThyssenKrupp, die teilweise sogar die Betriebsrenten noch willkürlich absenkten. Das System der bAV gereiche vor allem der Finanzwirtschaft zum Vorteil. Und selbst das Manager Magazin räumte 2012 in einer Untersuchung ein: „In acht von zehn Fällen fährt der Arbeitnehmer mit der garantierten Rente nur Verluste ein.“

Kampf gegen Rentenkürzung ist Klassenkampf

Doch selbst eine solche notwendige Kritik am System der „bAV“ dürfte eigentlich nicht das letzte Wort gewerkschaftlicher Kritik sein. Die Frage des Erhalts oder der Zerstörung des gesetzlichen Rentensystems ist eine ihrem Wesen nach allgemein gewerkschaftliche und systembedingte Frage. Das Bestreben der Unternehmer zielt grundsätzlich immer auf eine Kürzung der Löhne und Gehälter durch Absenkung der so genannten „Lohnnebenkosten“. Der Brutto-Gesamtlohn bzw. das Gesamtentgelt muss eigentlich komplett die Kosten für Alter und Invalidität beinhalten. Denn der Wert der Ware Arbeitskraft und ihr um diesen Wert zirkulierender Preis wird bestimmt durch die zum Erhalt der Arbeitskraft notwendigen Kosten. Dazu gehören nicht nur die Ausbildungskosten und die Kosten für die Gesunderhaltung, sondern auch für die Versorgung im Alter und bei Invalidität.

All diese Kosten müssen deshalb eigentlich komplett als Teil des Gesamtpreises der Ware Arbeitskraft vom Unternehmer bezahlt werden. Das bedeutet für die Kapitalisten aber eine Reduzierung ihres Profits und deshalb sind auch alle Kosten für die sozialen Sicherungssysteme aus Sicht des Kapitals, wie Karl Marx sagte, „faux frais“ (falsche Kosten). Sie sind also historisch ständig umkämpft. Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital spiegelt sich auch in diesen Auseinandersetzungen konkret wider. Davor dürfen Gewerkschaften grade jetzt nicht die Augen verschließen und sich auf das falsche Gleis der „Sozialpartnerschaft in den Rentenfragen“ lenken lassen.

Von Hans-Peter Brenner
Aus UZ-Ausgabe vom 14. Oktober 2016

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